"Der Flügelschlag eines Schmetterlings kann die ganze Welt erschüttern."

(Taoistische Weisheit)

Liebe Kinder!

In Physik habt ihr gelernt (oder lernt es noch), dass in unseren Köpfen bis zum Anfang des letzten Jahrhunderts Newtons klassische Mechanik eingespeichert war. Dann gab es Updates durch die Relativitätstheorie und die Quantenmechanik. Und jetzt hat die Wissenschaft eine neue Revolution parat, die Chaostheorie. Sehr vereinfacht ausgedrückt beschreibt sie:


Eine sehr kleine Ursache kann im Laufe eines Prozesses riesige Auswirkungen haben.


Etwas "wissenschaftlicher" ausgedrückt bedeutet das das Ende der deterministischen Voraussagbarkeit von Prozessen. Eine kleine Abweichung während einer Entwicklung, eines Vorgangs, eines Krankheitsverlaufs, einer wirtschaftlichen Entwicklung u.ä. kann ein ganzes System vollständig und unvorhersehbar verändern. Ausprobieren kannst du das mit dem bekannten Würfel-Experiment. Schau genau zu, wenn dein Mitspieler eine 6 würfelt und versuche, durch exaktes Kopieren seiner Handhaltung, Bewegung, Beschleunigung, Winkel usw. auch eine 6 zu würfeln. Eine noch so winzige Änderung am Anfang dieses Prozesses wird am Ende zu einer anderen Zahl führen.

Erfrischend an der Chaostheorie ist, dass wir ihr Prinzip ja eigentlich aus dem Alltag kennen (die Taoisten haben sie schon vor 2000 Jahren mit dem Schmetterling beschrieben). Denke z.B. daran, wie Staus entstehen können: alle fahren auf der Autobahn mit 100 km/h. Plötzlich klingelt bei einem der Fahrer, nennen wir ihn Egon, das Handy. Er schaut kurz auf das Display, es ist Hannelore, seine Frau, die ihn anruft. Als vorsichtiger Fahrer nimmt er nicht ab, aber er hat ein kleines bisschen das Tempo verzögert, ein ganz kleines bisschen den Fuß vom Gaspedal genommen. Der Fahrer hinter ihm hat seinerseits ein wenig verzögert. Sein Abstand war groß genug, bremsen musste er nicht. Diese kurze Verzögerung setzt sich fort und wird von Auto zu Auto mehr, bis der 33. Fahrer in der Kette dann doch bremsen muss. Bei Kurt, das ist der 187. Fahrer, reicht es nicht mehr, er fährt leicht auf den Vordermann auf. Beim 188. ist der Knall allerdings größer, und dummerweise ist Nummer 189 ein Gefahrguttransporter, auf den zwei Reisebusse auffahren.

Die anschließenden Untersuchungen ergeben folgendes Resultat: Schuld war eindeutig Kurt. Bilanz: so und so viel Tote, Verletzte, hoher Sachschaden. Politische Konsequenzen: verschärfte Gefahrgutverordnungen. Persönliche Folgen: Kurt erhängt sich nach zwei Jahren Depression.

Den eigentlichen Ursprung dieser Geschichte finden wir in Egons klingelndem Handy. Dabei wollte ihm Hannelore nur mitteilen, wie schön die Schmetterlinge um den neu erworbenen Flieder kreisen. Weder die Schmetterlinge noch Hannelore haben jemals in ihrem Leben erfahren, was sie ausgelöst haben.

Die Chaostheorie wird uns noch einmal begegnen, wenn es darum geht, die Welt zu retten. Das bringt mich wieder zu der ersten Frage: ist das Leben eine Illusion? Im Kapitel "Verstehen" habe ich euch erklärt, was wie zu welchem Zweck in unser Hirn geschrieben wird. Ich habe mir für dieses Kapitel viel Zeit genommen, euch zum Denken angeregt und vielleicht auch schockiert. Das ist gut so. Es ist wichtig zu wissen, dass Gedanken nicht einfach "irgend etwas" sind, das da kommt und geht und nachher ist alles wie vorher. Alles, was ihr hört, lest, tut, denkt, erlebt und fühlt hinterlässt Spuren in eurem Gehirn, messbare Materie.

Die Welt in unseren Köpfen, unser "Ich", unsere Wahrheit - ist ein Prozess, der ständig abläuft und sich aus allem zusammen setzt,
  • was von außen in unsere Festplatte gespeichert wird
  • was wir erleben
  • was wir tun
  • was wir fühlen
und was wir auf Basis dieses sich ständig verändernden Datensalats denken! Wir müssen damit leben, dass wir uns selbst nicht wirklich (be)greifen können, und dass unser Leben sowohl Illusion als auch Realität ist.


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