"Denken ist schwer, darum urteilen die meisten."
(Carl Gustav Jung)
Buntes Denken
Schwarz-Weiß-Denken ist überlebensnotwendig. Es sind die ersten Impulse, die wir als Kleinkind verarbeiten können. Dunkel – hell, ja – nein, gut – böse. Jeder, der sein Kind schon einmal ganz oben am Treppenabsatz kurz vor dem Abstürzen sah, weiß, was ich meine: da hilft keine Diskussion, da hilft nur ein NEIN. Mit dem Älter werden und Beschreiben des Gehirns mit unendlich vielen Informationen und Eindrücken lernt das Kind, dass die Welt Graustufen hat und sogar richtig schön bunt sein kann. Als Eltern sind wir am stärksten dafür verantwortlich, was da in die kleinen Gehirne geschrieben wird. Es ist unsere Aufgabe, unseren Kindern nicht nur zwei, sondern 10, 20, 100 Möglichkeiten der Wahrheit anzubieten, damit sie "ihre eigenen" Schlüsse ziehen können, denn:
Schwarz-Weiß-Denken ist lebensgefährlich. Viele Menschen erwachsen nicht aus dieser kleinkindlichen Denkstruktur. Sie denken auch mit 20, 30 oder 70 noch in diesen Kategorien – und gelten trotzdem als Erwachsene.
In unbeschreiblich vielen Diskussionen, am Stammtisch, in der Politik, in der Wirtschaft und auch im kleinen Familienleben finden wir diese Überbleibsel aus der Kindheit. Es ist eben auch so einfach: irgend jemand sagt uns, was gut und böse ist. Das Gute darf Überleben, das Böse muss bekämpft werden, notfalls mit Gewalt, notfalls mit Waffengewalt, und als Steigerung notfalls sogar präventiv mit Waffengewalt und ohne UN-Mandat(1). Schwarz-Weiß-Denken birgt drei wesentliche Gefahren:
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Manipulation. Archaische Denkstrukturen sind einfach zu steuern. Anstelle von qualitativer Überzeugungsarbeit reichen hier Trigger wie "weiß = gut, schwarz = schlecht", wobei wir für schwarz und weiß einsetzen können, was wir wollen (Fußballmannschaften, Hautfarben, Religionen, politische Parteien).
- Wandel. Was gestern weiß war, kann morgen schwarz sein. Wie oft wechseln Freundschaften und Weltanschauungen! Bei allen Kriegen können wir das beobachten. Mein Opa hat gegen Frankreich gekämpft. Zu der Zeit hatten die guten Deutschen das Recht, die bösen Franzosen zu erschießen. Und auf der anderen Seite hatten die guten Franzosen das Recht, die bösen Deutschen zu erschießen. Wie froh bin ich, dass aus einstigen Feinden Freunde geworden sind!
Mir graust immer, wenn ich rückblickend erfahre, dass die Bösen doch nicht böse waren:
1492 wurde Amerika entdeckt. Damals lebten auf dem heutigen US-Gebiet 15 Millionen Ureinwohner. 1890 waren bis auf 250000 alle 15 Millionen böse Menschen ausgerottet.
Für das 20. Jahrhundert werden weltweit 100 bis 180 Millionen Kriegstote geschätzt(2). Alles böse Menschen, je nachdem, auf welcher Seite man steht und wie gut die Kriegspropaganda funktioniert.
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Ausschnitt. Das ist die Fortführung von "Wandel" bzw. dem Kapitel "chaotisch". Je kleiner der Ausschnitt, den wir betrachten, desto fehlerbehafteter können Einschätzungen, Entscheidungen und Urteile sein, die wir daraus ableiten. Das gilt für Krankheiten, Kriege, Amokläufe und andere Entwicklungen. Denn es sind immer Entwicklungen! Entwicklungen, die zu irgend einem heute sichtbaren Ergebnis führen. Eine ungesunde Lebensweise, die zum Herzinfarkt führt. Politische Entwicklungen, die zum Krieg führen. Ungeliebte und gemobbte Schüler, die irgendwann um sich schießen. Und jedes Mal, wenn wir das Ergebnis betrachten, können wir einen gemeinsamen Nenner feststellen: multiples Versagen über einen längeren Zeitraum hinweg.
Die Welt ist bunt, grausam und wunderschön. Alles hat seinen Platz. Betrachten wir sie mit offenen Augen, mit allen Sinnen, vor allem auch mit dem Sinn für Schönheit. Je ungetrübter unser Blick, desto klarer, bunter und schöner wird unsere Welt, und um so näher rücken wir an ihre Rettung:
Bunt denken!
(1)https://de.wikipedia.org/wiki/Irakkrieg
(2)https://de.wikipedia.org/wiki/Kriegsopfer
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